Plädoyer Manuel Bloch in dem Verfahren gegen John Demjanjuk, LG München II,
14. April 2011
Verehrte Mitglieder des Gerichts,
Einleitung
In dem Vorwort seines unvergesslichen Buches “If this is a man”1 in dem der italienische Jude, Primo Levi, über seine Erlebnisse in Auschwitz berichtet, weist Levi mit einer gewissen Ironie darauf hin, dass keine der Fakten seines Buches erfunden sind.
Das gilt ähnlich auch für das, was ich oft fühle, wenn ich an die Gräueltaten des Holocaust denke: So etwas kann nicht im wirklichen Leben passiert sein, es ist zu unglaublich, um wahr zu sein.
Aber unglücklicher Weise sind diese Verbrechen und die Rolle, die John Demjanjuk dabei gespielt hat, nicht erfunden. Sie sind im wirklichen Leben passiert, im Jahr 1943, in Sobibor.
Beweise
Die Beweise in dem Verfahren gegen John Demjanjuk sind in großer Zahl vorhanden und sie fügen sich wie Teile eines Puzzles zusammen.
Der Dienstausweis, die Verlegungslisten, die Aussagen von Danilchenko und Nagorny, die Dokumente aus Majdanek und Flossenbürg, John Demjanjuks eigene Angaben, er sei Landwirt in Sobibor gewesen, das Fehlen eines glaubwürdigen Alibis.
Wenn man alle Teile dieses Puzzles zusammenfügt, wird das Bild, das die große Menge von Beweisen ergibt, glasklar: John Demjanjuk arbeitete als Trawniki-Wachmann in dem Vernichtungslager Sobibor und deshalb sollte er wegen Beihilfe zum Mord verurteilt werden.
Die Verteidigung hat vorgebracht, dass man sich nicht auf die Aussagen von Danilchenko, der angab, Demjanjuk von Sobibor zu kennen, nicht stützen kann. Ich verweise auf den Artikel des Historikers Peter Black über Hilfspolizisten in der Aktion Reinhard, in dem er das Gegenteil darlegt (LO 29, pdf Seite 179):
“Nachdem ich viele dieser Aussagen (zugegebener Weise Übersetzungen) gelesen habe, stelle ich fest, dass ungeachtet der Methoden, die die sowjetischen Vernehmungsbeamten angewandt haben mögen oder der unhaltbaren Schlussfolgerungen, die sie manchmal gezogen haben, viele der von diesen Angeklagten angegebenen Informationen tatsächlich mit den Informationen übereinstimmen, die in den erbeuteten deutschen Dokumenten enthalten waren, sowie auch in den Aussagen, die Trawnikimänner und deutsche Vorgesetzte in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten machten.”
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Primo Levi, Is dit een mens, Amsterdam 1990
Die Verteidigung hat behauptet, dass John Demjanjuk nicht verurteilt werden solle, weil er sich in einer Situation des Befehlsnotstandes befunden habe. Ich beziehe mich erneut auf Peter Black der angibt, dass 1000 von 5082 Trawnikis vor dem Kriegsende desertierten (LO 29, pdf Seite 183).
Holländisches Judentum
Der berühmte holländische Historiker, Jacques Presser, gab seiner Studie über das holländische Judentum im zweiten Weltkrieg den Titel: “Niedergang, Verfolgung und Vernichtung des holländischen Judentums 1940-1945″2. Der Titel dieses Buches hätte nicht treffender sein können.
Von den 140.000 Juden, die 1940 in den Niederlanden lebten, wurden 107.000 in die Konzentrationslager und Vernichtungslager der Nazis deportiert. Nur 5.200 überlebten. Von den 34.313 Juden, die von den Niederlanden nach Sobibor deportiert wurden, überlebten nur 193.
Der Ausdruck “historische Wahrheit” wurde während dieses Verfahrens oft von der Verteidigung gebraucht, oder sollte ich besser sagen missbraucht.
Die historische Wahrheit ist, dass ein Drittel der Juden, die aus den Niederlanden deportiert wurden, von den Nazis in Sobibor ermordet wurden, und dass John Demjanjuk den Nazis während der Zeit in der er dort war, dabei half (bei 15 von 19 Transporten, die dort ankamen).
Die historische Wahrheit ist, dass am 11. Juni 1943 John Demjanjuk half, 1.099 Kinder im Alter von 0 bis 16 Jahren zu ermorden, die mit dem berüchtigten Kindertransport4 in Sobibor ankamen.
Die historische Wahrheit ist, dass 20% seiner Trawniki-Kollegen ihre Arbeit nicht länger ertragen konnten und sich entschlossen, zu desertieren.
Die ist die historische Wahrheit ist, dass John Demjanjuk es vorzog, in Sobibor zu bleiben, obwohl sein ukrainischer Geburtsort nur einige Kilometer entfernt war.
Schauprozess:
Am 22. Februar 2011 gab John Demjanjuk eine Erklärung ab, die von seinem Verteidiger, Dr. Busch, vorgelesen wurde. In dieser Erklärung gab John Demjanjuk an, dass sein Prozess ein politischer Schauprozess sei.
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2 Dr. J. Presser, Ondergang, De vervolging en verdelging van het Nederlandse Jodendom 1940-1945, Den Haag 1965
3 Dr. L. de Jong, Het Koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog 1939-1945, deel 8, Den Haag 1978, p. 673
4 Dr. J. Schelvis, Vernietigingskamp Sobibor, Amsterdam 2004, p. 252
Auf hebräisch würde man seine Erklärung als eine “gutzpah” — eine Frechheit — bezeichnen.
Meiner Definition zufolge bedeutet Schauprozess Folter, erzwungene Geständnisse und das Fehlen eines fairen Verfahrens im Sinne des Artikel 6 der europäischen Menschenrechtskonvention.
John Demjanjuk kann nicht ernsthaft behaupten, dass dieses Verfahren gegen ihn auch nur in die Nähe eines Schauprozesses – gemäß der normalen Definition – kommt.
John Demjanjuk ist derjenige, der in diesem Verfahren versucht, die Wahrheit zu verbergen, es ist nicht der Staatsanwalt und auch nicht das Gericht. Es ist John Demjanjuk, der sich entschlossen hat, über seinen Aufenthalt am 11. Juni 1943, dem Tag an dem die 1.099 Kinder in Sobibor ankamen, zu schweigen.
Denjenigen, die behaupten, dieses Verfahren ähnelt einem Schauprozess wird geraten, sich die Bilder des Richters am Volksgerichtshof, Ronald Freisler, anzusehen.
Frühere westdeutsche Verfahren wegen Nazi-Verbrechen
Die Verteidigung hat wiederholt behauptet, dass die frühere westdeutsche Haltung gegenüber Nazi-Verbrechen zu der Schlussfolgerung führen sollte, dass dieser Fall niemals hätte vor Gericht gebracht werden sollen.
Prof. Nestler wird diesen Punkt noch weiter erörtern; lassen Sie mich ein Beispiel anführen, um zu zeigen, wie absurd dieser Standpunkt der Verteidigung ist.
Ich beziehe mich auf das Belzec-Verfahren in München in der Zeit von 1963 bis 1965. In Belzec haben die Nazis mindestens 435.000 vor allem polnische Juden5 ermordet. Nur drei haben überlebt6. Von den 8 Beschuldigten wurde nur einer,
Josef Oberhauser, wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen verurteilt und gegen ihn wurde eine Gefängnisstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten verhängt. Die anderen Beschuldigten wurden wegen “putativen Befehlsnotstands”7 nicht verurteilt.
Die Freisprüche, die niedrigen Strafen, die Verurteilung wegen “Beihilfe” anstelle von “Mittäterschaft”, der “putative Befehlsnotstand”, alles ist da. Und die Verteidigung schlägt im Jahre 2011 vor, dass diese veraltete Rechtsprechung immer noch angewendet werden sollte.
In seinem Urteil vom 16. November 1995 spricht der Bundesgerichtshof8 von “einem folgenschweren Versagen Bundesdeutscher Strafjustiz”, als er die rechtswidrigen
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5 Dieter Pohl, Die Trawniki-Männer im Vernichtungslager Belzec 1941-1943, LO 29, pdf page 66
6 Kuwalek, Der Ort des Terrors, Band 8, herausgegeben von W. Benz und B. Distel, München 2008, p. 359.
7 Adalbert Rückerl, NS Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse, Belzec Sobibor Treblinka Chelmno, München 1977, p. 83 and 84. Dick de Mildt, In the name of the people, Den Haag 1996, p. 276 and 277. Kuwalek, p. 360
8 5 StR 747/94
Todesstrafen erörterte, die von Nazirichter verhängt worden waren, die auch nach 1945 im Amt verblieben waren und nicht für ihre früheren Gerichtsurteile zur Rechenschaft gezogen wurden.
Dasselbe, “ein folgenschweres Versagen bundesdeutscher Strafjustiz”, trifft auf die auf die oben genannte, veraltete Rechtsprechung zu.
Nebenkläger
Wenn man die bedeutende Rolle der Nebenkläger in diesem Verfahren betrachtet, kommt einem das folgende Zitat von Theodor Adorno9 in den Sinn: “Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.”
21 Nebenkläger nahmen an dem ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt im Jahre 1963 teil10.
Meiner Kenntnis nach ist die Zahl der Nebenkläger in diesem Verfahren die höchste, die es in Verfahren wegen Nazi-Kriegsverbrechen nach dem Krieg gegeben hat.
Ohne deren Anwesenheit wäre dieses Verfahren ein Verfahren gewesen, das sich hauptsächlich mit schriftlichen Dokumenten aus einer längst vergangenen Zeit befasst hätte.
Die oft bewegenden Aussagen der Nebenkläger im Gerichtssaal, haben gezeigt, dass die Folgen der Ereignisse von 1943 in Sobibor heute immer noch spürbar sind.
Ihre Aussagen haben gezeigt, dass Adorno Recht hatte: Aufgrund ihrer Aussagen ist die Wahrheit über Sobibor heute zumindest in den Niederlanden viel besser bekannt als vor diesem Gerichtsverfahren.
Schluss
Ich danke dem Gericht für seine Aufmerksamkeit
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9 Theodor Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main, 1988, p. 29
10 Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968 Eine Biographie, München 2009, p. 327